5. September 2019

Handicapsportfest

„Handicapsportfest“ Klassenstufe 12

„Sie haben eine körperliche Behinderung, doch ihr Verstand funktioniert einwandfrei. Aber gerade das scheint die Gesellschaft häufig nicht glauben zu wollen. Denn wenn Menschen mit Behinderung Karriere machen möchten, stoßen sie nicht nur auf bauliche Barrieren in Schulen, Universitäten und in der Software.
Häufig stellen Unverständnis und Vorurteile bei Berufsberatern und Arbeitgebern das größte Hindernis dar.“, so formulierte es 2017 ein Artikel auf „Zeit Online“.
Gehen wir ein Schritt zurück auf der Karriereleiter. Folgende Szene spielt sich regelmäßig in Deutschlands Schulen ab: Kinder stolpern, vertreten eine andere Meinung als die Mehrheit in der Gruppe oder machen schlicht einen Fehler bei einer zu lösenden Aufgabe. „Haha, ey, die sind ja voll behindert!“ hört man dann
mitunter SchülerInnen sagen. Die Abweichung von einer vermeintlichen gesellschaftlichen Norm des Perfektionismus führt oft zu Ausgrenzung, wobei der Begriff „behindert“, wie in diesem Fall, nicht selten als Schimpfwort zur allgemeinen Abwertung und Infragestellung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten missbraucht wird.
Beide Beispiele zeigen: Das Wort „behindert“, steht oft für nicht „normal“ sein, es bedeutet krank sein. Und krank sein ist schlecht, bedeutet im Zweifel zusätzliche Arbeit für Andere und das ist auch schlecht, denn warum sollte deren Problem zu meinem Problem werden? So weit, so oberflächlich und so einfach die Ausgrenzungslogik, die sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu ziehen scheint.
Was aber bedeutet es mit einer Behinderung zu leben, wie fühlt es sich an ein Handicap zu haben und was sind die größten Herausforderungen im Alltag, die ein Mensch ohne Handicap nicht einmal wahrnimmt? Die SchülerInnen der zwölften Klasse des Goethe-Gymnasiums Ludwigslust durften diese wertvolle Erfahrung
am alljährlichen „Handicapsportfest“ machen und mit Menschen und Verbänden ins Gespräch kommen.
Das Aphasiker-Zentrum Mecklenburg-Vorpommern e.V. informierte die SchülerInnen über Aphasie und Halbseitenlähmung als mögliche Folgen eines Verkehrsunfalls. Aphasie, was ist das überhaupt? Ingrid Freier, Leiterin des Aphasiker-Zentrums Mecklenburg-Vorpommern e.V., ein gemeinnütziger Verein mit Sitz am Mediclin Reha-Zentrum Plau am See: erläutert “Aphasie ist eine Sprachstörung, die z. B. nach einer Schädel-Hirn Verletzung nach einem Schlaganfall oder durch einen Verkehrsunfall entstehen kann. Bei jungen Verkehrsteilnehmern ist diese Gefahr nur unterschwellig präsent. Viele meinen, ‚so etwas passiert mir doch nicht‘.“, berichtet Ingrid Freier aus Erfahrung. „Ganz plötzlich werden sprachliche Fähigkeiten, wie Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben zu harter Arbeit. Dadurch verändert sich für die Betroffenen oft die ganze Lebensplanung. Dabei ist eine Aphasie eine Sprach- und keine Denkstörung.“ Im weiteren Verlauf vermittelten Betroffene einfühlsam an Beispielen alltäglicher Herausforderungen und aus eigener Erfahrung, wie sich das Leben ganz plötzlich verändern kann. Gemeinsam suchten sie mit den teilnehmenden SchülerInnen das Gespräch und vermittelten einen Blick in persönliche Schicksale.
Der Blinden- und Sehbehindertenverband bot den SchülerInnen die Möglichkeit in das tägliche Leben blinder oder sehbehinderter Menschen einzutauchen und sich mit charakterstarken Betroffenen zu unterhalten, um sich z. B. über die Nutzungsmöglichkeiten verschiedenster smartphone-Funktionen zu informieren. „Naja, Fotos und Videos mach ick nich und wenn ick mit irgendwelchen Bildern oder Videos bombadiert werde, dann lösch’ ick dat gleich. Wat soll dat denn?! Ick kann dat ja eh nicht sehen!“ lautete die selbstbewusste Antwort.
Richtig sportlich wurde es unterdessen auf dem Schulhof und in der Sporthalle. Der Verband für Behinderten- und Rehabilitationssport bot den SchülerInnen die Möglichkeit sich auf verschiedenen Parcours im Rollstuhl bei der Überwindung diverser Hindernisse auszuprobieren, wie z. B. einer Rampe, Kopfsteinpflaster oder einer kleinen Treppe. Schnell wurde den Zwölftklässlern klar, welche enorme körperliche Anstrengung, Koordinationsgeschick und vorausschauende Planung notwendig ist, um Wege zurückzulegen, die für Nicht-Gehbehinderte weder viel Kraftanstrengung, noch genaue Routenplanung bedeuten. Auch bei den Drums, beim Rollstuhlbasketball, Rollstuhlbadminton und Rollstuhltanz wurden die SchülerInnen fachgerecht instruiert und auf eine energiegeladene Erfahrungsreise geschickt. „Den herausragenden Stellenwert von Koordination, Konzentration, Wahrnehmung und besonderem Krafteinsatz für Menschen mit Handicap am eigenen Körper zu erleben, war für die SchülerInnen eine nicht alltägliche Erfahrung und hat sie definitiv dafür sensibilisiert, welche körperlichen und geistigen Höchstleistungen ein Handicap abverlangen. Das ist die Grundvorraussetzung für ein gelingendes Miteinander ohne Ausgrenzung.“ resümiert Lehrerin und Projektleiterin Ramona Stein am Ende des Tages.

Text: Tony Schroeder

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